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Vom Abdecker bis zum Zoller: Berufe in St. Gallen um 1829

Ein Zinngiesseratelier um 1820

Die Bürgerbücher der Stadt St. Gallen sind eine sehr informative Quelle zur Bevölkerungsstruktur der Stadt St. Gallen und indirekt auch zum Textilhandel. Ich habe den ersten Band von 1829 digitalisiert und die Berufe extrahiert. Die Resultate daraus sind zwar nicht völlig überraschend, aber dennoch interessant. Die Dominanz des Handels in der Stadt wird sehr deutlich. Mit Abstand am meisten Personen geben nämlich als Beruf Kaufmann an.

Ein Zinngiesser Atelier um 1820. Lithographie aus dem Buch «Gallerie der vorzüglichsten Künste», Zürich 1820 (Bild: Yale University).

 

Doch der Reihe nach: Die Bürgerbücher dokumentieren die Personen mit Bürgerrecht in St. Gallen. Diese unterscheiden sich von der Stadtbevölkerung, unter die auch die Niedergelassenen fallen. Sie machen 1829 nur etwa die Hälfte der StadtbewohnerInnen aus. Zudem leben nicht alle BürgerInnen in der Stadt, sondern sind über den Erdball verteilt (6,6%). Die Bürgerbücher sind deshalb keine vollständige Quelle zur Arbeitsstatistik der Stadt.

1623 der Bürgerinnen und Bürger haben ihren Beruf angegeben. Die Schieflage zwischen den Geschlechtern ist dabei entsprechend der Zeit extrem. Nur zwei Frauen geben einen Beruf an. Die eine ist Lehrerin und die andere Modistin. Die Berufe lassen sich folgendermassen katergoriseren: Erstens Berufe, die etwas herstellen (Agrarsektor, Gewerbe und Industrie), zweitens reproduktive Berufe im weitesten Sinn, die dafür sorgen, dass die Stadt dreht (Dienstleistungen verschiedener Art) und drittens den Handel. Grob gesagt stellt die Hälfte Dinge her, während je ein Viertel Produkte handeln oder dafür sorgen, dass die Stadt funktioniert.

Schauen wir etwas genauer in die drei Bereiche. Unter den produzierenden Berufen finden wir viele spezialisierte Handwerker, wie das in einer Zunftstadt zu erwarten ist. Sie stellen Fässer, Seile, Leder, Felle, Kleider, Knöpfe, Schuhe, Möbel, Schirme, Kämme, Besteck, Seifen, etc. her. Kunsthandwerker machen Schmuck, Bücher, Zinngefässe, Lithographien und Bücher. Andere Handwerker stellen Nahrungs- und Genussmittel her. Metzger ist der zweithäufigste Beruf. Es gibt deren 80, doppelt so viele wie Bäcker. Von den 34 Müllern mahlten wohl die Minderheit Getreide. Die Mehrheit dürften die Mühlen für die Industrie bedient haben.

Was in diesem Blog besonders interessiert, sind die in der Textilindustrie Tätigen. Für die Textilstadt erstaunt wie wenige einen Textilberuf angeben, nur rund 6%. Darunter fallen Weber, Bleicher, Glätter, Manger, Färber, Modelstecher, Drucker, viele Appretierer, etc. Angesichts der Spinnereien in der Stadt fällt auf, dass bloss 2 Männer sich als Spinner bezeichnen. Dort arbeiteten vor allem Kinder, Frauen und zum Teil Sträflinge. Auch bei den Druckereien und Appreturen der Stadt lässt die geringe Anzahl von Bürgern, die einen solchen Beruf angeben, vermuten, dass die Fabriken vor allem unter Auswärtigen rekrutierten.

Die Dienstleistungen, welche die Stadt benötigte, umfasste Berufe vom Abdecker, der die Tierkadaver beseitigt, bis zu den Ratsherrn. Es umfasst Gastronomie, Gesundheitswesen, Recht, Sicherheit, Erziehung und Kirche (damals noch kaum getrennt), Infrastruktur, Unterhalt und Reinigung, sowie Logistik, Transport und Kommunikation.

Schliesslich der Handel: Mit grossem Abstand die grösste Kategorie sind die Kaufleute. Zählt man noch die Handelsleute, die Handlungscommis und die Kommissionäre dazu (311), so fällt beinahe jeder fünfte darunter. Da stellt sich natürlich die Frage, was alle diese Kaufleute verkaufen? Die Bürgerbücher geben leider keine direkte Auskunft darüber. Trotzdem können wir noch einiges aus den weiteren Angaben im Buch schliessen. 22 Kaufleute sind über 70, was damals angesichts der Lebenserwartung ein hohes Alter war. Man kann davon ausgehen, dass diese mehrheitlich nicht mehr oder nur am Rande in das tägliche Geschäft involviert waren. Kaufmann bleibt man in dieser Zeit offenbar auch nach dem Rückzug aus dem Berufsleben.

71 der Kaufleute leben nicht in St. Gallen, sondern ausserhalb der Stadt, die meisten davon in der übrigen Schweiz, vor allem in Zürich und der Romandie, sowie in Frankreich, Italien und Deutschland. Einige lebten noch weiter weg, etwa in Brasilien, Kuba, Grenada und den USA, in Estland, Russland, der Ukraine und schliesslich einer in Libyen. Bei vielen dieser Kaufleute im Ausland ist bekannt, dass sie St. Galler (und andere) Stoffe verkauften. Das gilt besonders für diejenigen in Übersee und in europäischen Hafenstädten wie Amsterdam, Hamburg, Marseille, Livorno, Genua und Triest. Die Zahl wird vermutlich höher liegen, denn bei vielen ist der Wohnort nicht angegeben, so etwa beim 21-jährigen Christoph Züblin, der damals im Auftrage des Kaufmännischen Direktoriums in Buenos Aires Handelskontakte zu knüpfen versuchte.

Agrarische Berufe241.48%
Gewerbe und Industrie82650.89%
Gewerbe (allgemein)23214.29%
Baugewerbe784.81%
Gewerbe (Kleidung)1559.55%
Gewerbe (Nahrungsmittel)16910.41%
Industrie und Bergbau120.74%
Kunst70.43%
Kunsthandwerk754.62%
Textilberufe986.04%
Dienstleistungen36422.43%
Gastronomie462.83%
Gesundheitswesen482.96%
Recht und Sicherheit (inkl. Militär)734.50%
Transport, Logistik, Kommunikation301.85%
Erziehung / Geistliche654.00%
Studenten241.48%
Infrastruktur und Unterhalt271.66%
Verwaltung513.14%
Handel37022.80%
Kaufleute28017.25%
Kaufmännische Dienste70.43%
Finanz20.12%
Kaufm. Angestellte im Grosshandel503.08%
Kleinhandel311.91%
Nicht definiert oder arbeitsunfähig392.40%
Hilfsarbeit90.55%
nicht arbeitsfähig301.85%
Total1623100.00%
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